IEN D-A-CH: Herr Dr. Deckers. Welche Bedeutung hat Condition Monitoring?
Dr. Jörg Deckers: Condition Monitoring hat gerade im Kontext der Digitalisierung der Industrie eine sehr große Bedeutung. Diese wird künftig weiter wachsen, da es in der Welt tendenziell zu wenige Diagnoseexperten gibt, Maschinen komplexer und an immer entlegeneren Orten betrieben werden. Umso wichtiger wird es, Technologien einzusetzen, um Fehlerzustände frühzeitig und automatisiert zu erfassen. Das macht Condition Monitoring, und daraus erklärt sich seine wachsende Bedeutung.
IEN D-A-CH: Siemens hat vergangenes Jahr angekündigt, Condition Monitoring für den gesamten Antriebsstrang anzubieten. Wie ist die Nachfrage?
Deckers: Die Nachfrage ist sehr groß. Wir haben eine hohe Resonanz durch unsere Messe- und Medienauftritte erhalten. Es ist heute durchaus noch so, dass viele Service- und Komponentenlieferanten Condition Monitoring für einzelne Komponenten liefern. Aber letztendlich beeinflussen sich die verschiedenen Komponenten eines Antriebsstrangs auch untereinander, etwa Motor, Umrichter, Getriebe und Arbeitsmaschine. Insofern ist es für die Diagnose entscheidend, Kenntnisse über alle beteiligten Komponenten zu haben und die auftretenden Korrelationen zu berücksichtigen.
IEN D-A-CH: Ab wann rechnet sich die Überwachung und vorbeugende Instandhaltung des Antriebsstrangs?
Deckers: Das ist immer eine Frage der Kritikalität der Anlage und des Risikos, dass ein unvorhergesehener Ausfall eintritt. Wenn man in einem Zementwerk fünf Linien hat, die parallel das Gleiche herstellen, kann man den Ausfall einer Linie vielleicht mit den verbleibenden vier abfedern. Hat man aber nur eine Linie, dann steht unter Umständen die gesamte Produktion über Tage und Wochen. Das wird schnell existenzbedrohend. Man kann daher den Wert eines Condition Monitoring Systems nicht einfach am Preis der potenziell defekten Komponenten festmachen. Selbst defekte Pfennigteile können hohe Folgekosten haben. Deswegen führen wir im Vorfeld eine Fehlermöglichkeits-Einflussanalyse durch, um festzustellen, an welchen Positionen kritische Fehler zu erwarten sind und welche Betriebsausfallkosten daraus folgen können. Daran kann man festmachen, welches Condition Monitoring sich wirtschaftlich rechnet.
IEN D-A-CH: Erstreckt sich Siemens Condition Monitoring auch auf Anlagen, die nicht aus ihrem Haus sind?
Deckers: Wir bieten unseren Service unabhängig vom Automatisierungssystem und von den Komponenten an. Es ist beim schwingungsbasierten Condition Monitoring natürlich so, dass man für die Diagnose Kenntnisse über Anlagen und Komponenten benötigt. Bei einem Getriebe brauchen wir zum Beispiel Informationen über die eingebauten Wälzlagertypen, um die kinematischen Erregerfrequenzen zu errechnen. Bei Produkten aus dem eigenen Haus kennen wir natürlich alle Parameter. Aber in der Regel verfügt auch der Betreiber der Anlage über die nötigen Daten, so dass wir auch Anlagen von Wettbewerbern überwachen können. Ein Beispiel: Bei einem Windpark von 80 Windenergieanlagen sind nicht zwangsläufig alle Generatoren und Getriebe von Siemens. Wenn der Windparkbetreiber von uns ein Condition Monitoring System erwirbt und uns den Service überträgt, dann kann er auch erwarten, dass wir uns auch um jene Komponenten kümmern, die nicht von uns sind.
IEN D-A-CH: Viele Windenergieanlagenbetreiber übertragen den Service gerade nicht den Anlagenherstellern, da sie im Schadensfall bei diesen Interessenkonflikte vermuten. Ist das typisch für diese Branche?
Deckers: Nach meiner Erfahrung tritt das eher selten auf, und wenn dann unabhängig von der Branche.Wir entgegnen dem mit größtmöglicher Transparenz. Unser Interesse ist ganz auf die Erhöhung der Verfügbarkeit der Anlage gerichtet. Wir stellen sicher, dass die Anlagen nicht defekt werden gehen, egal wer oder was den Fehler zu verantworten hat.
IEN D-A-CH: Was entscheidet letztlich über den Erfolg von Condition Monitoring: die Zahl der Sensoren, der Messgeräte, das Gespür der Anlagenbetreiber?
Deckers: Das fängt sicher mit der Sensorik, der Analytik und der Bewertung an. Aber auch der enge Informationsaustausch mit dem Kunden beziehungsweise dem Instandhalter vor Ort ist extrem wichtig. Nehmen wir an, es wird bei einer Maschine, die ich aus der Ferne überwache, ein Ölwechsel vorgenommen oder die Ausrichtung der Kupplung verändert. Das sind Informationen, die ich brauche, um die Spektren und Signale auf meinem Monitor korrekt zu bewerten. Enge Absprache ist ein wesentlicher Erfolgsbaustein des Condition Monitoring.
IEN D-A-CH: Ist Condition Monitoring nur für große und kostenrelevante Anlagen interessant?
Deckers: Durch immer bessere und schnellere Rechner nimmt die Leistungsfähigkeit der Analytik zu. Gleichzeitig steigt die Verbreitung und Intelligenz von Sensorik bei sehr attraktiven Preisen. Diese Entwicklung wird übrigens stark durch den Consumerbereich vorangetrieben, wie man bei Smartphones und der Automobilelektronik sehr schön sieht. Dadurch sinken auch die Anschaffungs- und Betriebskosten für industrielle Condition Monitoring Systeme und machen dies auch für weniger teure Anlagen und Maschinen interessant.
IEN D-A-CH: Zum Beispiel?
Deckers: Während man früher Condition Monitoring für Getriebe ab etwa einer Million Euro in Erwägung gezogen hat, rechnet sich ein Condition Monitoring System mit zugehörigem Remote Service heute zum Beispiel auch für eine Förderbandanlagen, deren Getriebe vielleicht nur 50.000 Euro kostet.
IEN D-A-CH: Beschleunigen die Erkenntnisse des Condition Monitoring wiederum den Fortschritt im Anlagen- und Maschinenbau?
Deckers: Wir verfügen dadurch über viel mehr Anlagen- und Prozesswissen. Das kann für den Kunden dazu führen, dass ein Getriebe eine Baugröße kleiner verbaut werden kann, weil die Beanspruchungen niedriger als ursprünglich errechnet sind oder andere Komponenten aufgrund der beobachteten Belastungen stärker dimensioniert werden. Kosten und Betriebssicherheit werden so optimiert. Die Erkenntnisse des Condition Monitoring fließen bei Siemens natürlich über regelmäßige Produktbesprechungen auch in die Produktentwicklung ein.
Interview geführt von Thomas Bauer, Redakteur IEN DACH