Industrie 4.0 ist einer der zurzeit meist strapazierten Begriffe in der produzierenden Industrie. Auch auf der Hannover Messe in diesem Jahr war das Thema allgegenwärtig. Ziel dieser groß angelegten Initiative ist letztendlich die intelligente Fabrik. Wie aber lassen sich die sog. Cyber Physical Systems (CPS) - also das bestmögliche Zusammenspiel von zu produzierender Ware mit der im Fertigungsprozess eingesetzten Hard- und Software - bei den Unternehmen realisieren? Werden Produkte tatsächlich mit den Maschinen "sprechen"? Und ist im deutschen Mittelstand überhaupt ein Bewusstsein für diese Thematik vorhanden?
TR sprach in Hannover mit Christian Neumann, Director SAP MES beim IT-Dienstleister Freudenberg IT.
TR: Als IT-Dienstleister implementieren Sie die SAP MES Software. Welche Kunden betreuen Sie vorwiegend?
Neumann: Wir betreuen Kunden aus der mittelständischen Fertigungsindustrie in der Größenordnung bis 5.000 Mitarbeiter. Freudenberg IT ist Full-Service-Provider im SAP-Kontext. Wir implementieren nicht nur Manufacturing Execution Systems, sondern auch die sogenannten Top-Floor-Elemente, wie Produktionsplanung und Logistik, und sorgen letztendlich für die nahtlose Integration in den Shop, um dann - was ja auch bei Industrie 4.0 immer wieder angesprochen wird - eine vertikale Integration zwischen der Unternehmens- und der Fabriksoftware zu realisieren.
Denn dies ist eines der wesentlichen Alleinstellungsmerkmale der Freudenberg IT: Wir verstehen beide Ebenen und bekommen eine solche Integration in der Regel besser hin als reine MES-Anbieter. Im Bedarfsfall müssen wir also nicht alles im MES-Bereich lösen, sondern können auch, wenn es besondere Herausforderungen gibt, auf die ERP-Ebene gehen. Die Freudenberg IT beherrscht die Integration und das Know-how aus beiden Welten und kann dementsprechend auch beim Thema Industrie 4.0 entscheidend mitreden.
TR: Sind dies aus Ihrer Sicht Ebenen, die erst noch zusammenwachsen müssen: Shop Floor und Top Floor?
Neumann: Wenn man es einmal rein schwarz/weiß betrachtet, dann existieren eigentlich zwei Blöcke: Einerseits gibt es Firmen, die eine relativ starke IT-Unterstützung in der Produktionsebene haben. Diese ist über 20 Jahre gewachsen, jedoch stets im Shop Floor geblieben und hat sich in einem relativ geschlossenen System wenig um ERP-Prozesse gekümmert. Auf der anderen Seite gibt es Unternehmen, die ihre IT eher über die ERP-Ebene strukturiert haben und die in der Produktionsebene weniger computerisiert sind. In der Regel können diese Firmen eher Prozesse integrieren.
Im Großen und Ganzen gibt es aber einen hohen wechselseitigen Informationsbedarf darüber, was die jeweils andere Ebene anbelangt und wo noch Optimierungspotenziale ausgeschöpft werden können. Hier müssen die Welten definitiv noch zusammenwachsen, und es gibt sicherlich Unternehmen, bei denen die zu überbrückende Kluft größer ist als bei anderen.
TR: Inwieweit ist bei Ihren Kunden überhaupt das Bewusstsein für eine solche Integration vorhanden? Ich könnte mir vorstellen, dass mit dem Begriff Industrie 4.0 noch sehr viele nichts anfangen können.
Neumann: Das ist in der Tat das mit Abstand größte Problem. Es ist zwar so, dass jeder das Schlagwort Industrie 4.0 für sich als wichtig erachtet, aber im Grunde alle etwas anderes darunter verstehen. Wenn ich Kunde wäre, würde ich zunächst sagen: Ich schaue mir einmal die einzelnen, zu realisierenden Punkte im Hinblick auf Industrie 4.0 an und entscheide dann, wie umfangreich die Automatisierung in meinem Unternehmen sein sollte.
Ich glaube, wir kommen jetzt erst dazu genau zu beschreiben, was unter diesem Schlagwort zu verstehen ist. Einem Kunden heute zu sagen, wir machen jetzt Industrie 4.0, ist nicht unbedingt der richtige Weg. Sicherlich gibt es in vielen Firmen bereits gute Ansatzpunkte für Optimierungen, um in Prozessen besser auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können und somit mehr Transparenz im Produktionsprozess zu schaffen. Sobald man jedoch anfängt, Kunden beizubringen, dass Maschinen und Produkte miteinander 'reden' müssen und MES nur noch als Datensammlung ohne Steuerung eingesetzt wird, kommen viele an den Punkt zu hinterfragen, wie viel Cyber sie in ihrer Fabrik überhaupt haben möchten.
Die Überzeugung zu vermitteln, dass MES die Transparenz und die Nachverfolgbarkeit von Produkten steigern, ist sicherlich einfacher, als beim Mittelstand von heute auf morgen Cyber Physical Systems zu implementieren.
TR: Ihre Kunden, der Mittelstand, differenzieren sich von den Großunternehmen ja häufig dadurch, dass sie sehr kurze Entscheidungswege haben und auch in kleinen Losgrößen kundenspezifisch produzieren können. Wenn jetzt durch Industrie 4.0 auch die Großindustrie in der Lage ist, ab Stückzahl eins wirtschaftlich zu produzieren, ist da nicht die Gefahr gegeben, dass der Mittelstand seine Wettbewerbsfähigkeit einbüßt?
Neumann: Das ist eine interessante These. Gefühlt würde ich erst einmal sagen nein, da die Wege in einem kleineren Unternehmen im Vergleich zu einem Großunternehmen immer noch kürzer sind und sie immer noch flexibler auf Marktanforderungen reagieren kann. Die Agilität von kleineren Unternehmen, auf einen Wandel reagieren zu können, wird meines Erachtens erhalten bleiben. Die Frage ist ja nicht nur: Wie schnell kann meine Produktion reagieren? Es hängt ja auch viel von der Organisationsstruktur des gesamten Unternehmens ab, und dieser Vorteil wird auch unter Industrie 4.0 fortbestehen.
TR: Werden Großunternehmen bei der Realisierung von Industrie 4.0 denn Vorreiter spielen und die Mittelständler eher eine abwartende Haltung einnehmen?
Neumann: Ich denke ja. Letztendlich werden es die Großkonzerne sein, die bestrebt sein werden, ihre Stückkosten zu reduzieren und auf diesem Gebiet zunächst aktiv werden.
TR: In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch interessant, dass auch hier in Hannover Industrie 4.0 bei vielen kleineren oder mittelgroßen Unternehmen - anders als bei Großkonzernen - noch kein Begriff ist, der tatsächlich ins Bewusstsein vorgedrungen ist.
Neumann: Ich denke, es ist zunächst einmal ganz wichtig, ein gewisses Umdenken dahingehend anzuregen, dass es von Vorteil ist, wenn Produkte mehr Informationen mit sich tragen - egal ob während der Produktion oder nach Verlassen der Fabrik.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Häufig wird darüber geredet, welche Möglichkeiten z.B. RFID bietet, diese Vorzüge werden allerdings in der Realität jedoch nicht ansatzweise ausgeschöpft. So habe ich vor kurzem bei meinem vier Jahre alten Kühlschrank versucht herauszufinden, welche Seriennummer dieser hat, um diese an den Service des Herstellers weiterleiten zu können. Dazu hätte ich gerne mit meinem Smartphone an einem gut zugänglichen Ort einen 2-D Code gescannt, der alle nötigen Informationen bereithält. Stattdessen muss ich den Kühlschrank abrücken oder schlimmstenfalls ausbauen. Mit anderen Worten: Es ist noch lange nicht so, dass heute die ganze Welt digitalisiert ist, so dass der Endkunde einen Nutzen daraus ziehen könnte. Mithin ist es schon wertvoll, ein Denken dahingehend anzustoßen, dass nicht alle Informationen innerhalb eines Unternehmens bleiben müssen.
TR: Zumal Industrie 4.0 ja ohnehin nur richtig funktioniert, wenn Informationen unternehmensübergreifend ausgetauscht werden...
Neumann: Genau. Vor wenigen Jahren hätte sich auch noch niemand vorstellen können, dass ich einen Webdienst aufrufe, der mir mitteilt, wo sich ein Dritter gerade befindet. Heute ist dies ganz normal, und ich glaube es ist einfach nur nötig, tradierte Denkmuster aufzubrechen und zu hinterfragen, um andere Geschäftsmodelle zu entwickeln. Technisch sind die Möglichkeiten größtenteils schon vorhanden. Man muss jetzt damit beginnen, Teile von dem preiszugeben, was wichtig ist, um ein solches Projekt wie Industrie 4.0 zu realisieren. Dann können Kunden und Lieferanten besser voneinander profitieren.
TR: Dies stellt dann aber auch enorme Anforderungen an die IT-Sicherheit.
Neumann: Ja, wobei ich dabei immer vorsichtig bin. Denn die IT-Sicherheit kann auch schnell zum absoluten Killer-Argument werden, um eine solche Entwicklung komplett abzuwürgen. Natürlich sollte man bei Dingen wie z.B. Cloud-Computing immer die nötige Vorsicht walten lassen und dies nicht von der Tagesordnung nehmen. Aber ich befürchte, dass solche Bedenken die Entwicklung fortschrittlicher Konzepte behindern können.
TR: Also ist Industrie 4.0 doch eher ein evolutionärer Prozess als eine Revolution.
Neumann: Absolut. Es sind evolutionäre Schritte, die bei vielen Unternehmen sicherlich schon stattfinden, die aber nicht wissen, dass sie gerade Industrie 4.0 in die Tat umsetzen, weil sie den Begriff einfach noch nicht kennen. Es geschieht aber nichtsdestotrotz aus der Notwendigkeit heraus, dass sich ein Unternehmen weiterentwickeln muss.
TR: Herr Neumann, vielen Dank für dieses Gespräch.