Der Ausbau des Stromnetzes ist unproblematischer als bislang angenommen. Denn Stromtrassen können durch die Ertüchtigung mit modernen Hochtemperaturleiterseilen die doppelte Strommenge aufnehmen. Und wie eine neue Studie der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen (RWTH) belegt, kann die Netzertüchtigung wirtschaftlicher als ein Netzaus- oder -neubau mit herkömmlichen Stromseilen sein, da beim Tausch der Leiterseile die vorhandenen Strommasten weiter verwendet werden. Langwierige Planfeststellungsverfahren könnten entfallen. Die RWTH berechnete im Auftrag der 3M Deutschland mehrere Szenarien für das Hochtemperaturleiterseil ACCR (Aluminum Conductor Composite Reinforced), ein Seil aus einer speziellen Aluminium-Keramik-Verbindung.
Bei einem Szenario der Studie mit beispielsweise 200 Kilometer Länge käme die Ertüchtigung der bestehenden Leitung mit dem ACCR-Seil von 3M (219 Mio. Euro) um 19 Prozent günstiger als ein Ersatz der Strecke mit neuen Masten und herkömmlichen Seilen (269 Mio. Euro). Bei einem anderen Szenario mit 50 Kilometern wären es zwölf bzw. 28 Prozent, je nach Ersatzvariante (42 zu 48 bzw. zu 58 Mio. Euro). In der Studie unberücksichtigt blieb die Tatsache, dass eine Ertüchtigung mit ACCR im Gegensatz zu den anderen Varianten üblicherweise kein Planfeststellungsverfahren benötigt, was zu kürzeren Realisierungszeiten führt und einen enormen gesellschaftlich-volkswirtschaftlichen Vorteil birgt. War die Netzstudie der Deutschen Energie-Agentur (Dena) 2010 bei ihren Berechnungen mit älteren Hochtemperaturleitern noch zu wesentlich höheren Kosten gekommen (+70%!), liefert die RWTH-Studie nun eine Ergänzung, die den mittlerweile aktuellen Stand der Technik berücksichtigt. Dr. Ralf Puffer, von der Leitung des RWTH-Instituts für Hochspannungstechnik: "Moderne Hochtemperaturleiter mit geringem Durchhang können bei der Ertüchtigung vorhandener Leitungen eine wirtschaftlich günstige Alternative zum Neubau einer Leitung sein. Hochtemperaturleiter wie der ACCR-Leiter von 3M haben im Gegensatz zu älterer Technik den Vorteil, dass sie einerseits sehr hohe Ströme führen können, und andererseits in der Regel gegen einen vorhandenen Leiter auf bestehende Masten ausgetauscht werden können. Das senkt Kosten und spart Zeit, denn die hier notwendigen Genehmigungsverfahren sind vergleichsweise kurz. Die genaue Identifikation der vorhandenen Leitungen, die für einen Einsatz von Hochtemperaturleitern in Frage kommen, erfordert umfangreiche weitere Untersuchungen."
Das ACCR-Seil könnte sich im Extremfall - etwa bei plötzlich sehr hoher Einspeisung von Windstrom - noch bis über 210 Grad Celsius erhitzen, ohne sich zu verformen oder durchzuhängen. Herkömmliche Stahl-Alu-Seile sind dagegen nur bis 80 Grad Celsius einsetzbar. Juergen Germann, Leiter der deutschen 3M Elektro-Sparte: "Das ACCR-Seil ist seit vielen Jahren weltweit im Einsatz. Auch die deutschen Netzbetreiber verwenden ACCR und andere moderne Hochtemperaturleiter in Pilot-Projekten auf allen Spannungsebenen. Für den Netzausbau und die Energiewende ist es daher unverzichtbar, den neuesten Stand der Technik zu berücksichtigen. Dies war bei der Erstellung der Dena-II-Studie von 2006 bis 2010 noch nicht möglich."